Sunday, January 1, 2023

SRD

Wenn ich nichts zu tun habe, treibe ich mich ab und zu auf YouTube herum. Besonders angetan haben es mir in letzter Zeit Videoserien wie “Idiots in Cars”. Darin sieht man, wie Menschen durch unangebrachte (typischerweise dämliche) Aktionen das Verkehrstreiben durcheinander bringen. Während manche von ihnen einfach gerade ein bisschen neben der Spur zu sein scheinen, wird in anderen eine geradezu himmelschreiende Blödheit deutlich, so dass sie für eine Erwähnung in diesem Blog hervorragend geeignet sind.

Zunächst einmal möchte ich betonen, dass ich mir dergleichen nicht anschaue, weil ich gern Unfälle sehe. Viele der gezeigten Clips gipfeln in Unfällen, einige davon richtig übel, und das ist wie gesagt nicht der Grund. Warum also sollte man sich die Videolektüre antun? Man lernt nicht viel Nützliches übers Autofahren, über Verkehrsregeln oder Fahrzeugtechnik. Und trotzdem lassen mich diese Videoserien zur Zeit nicht los.

Die Antwort lautet: Man lernt unheimlich viel über die menschliche Natur. Im Zentrum des Geschehens stehen Personen, deren eingebildete Fähigkeiten hinter dem Steuer in keiner Beziehung zu ihren tatsächlichen Fähigkeiten stehen. Man kann am Ende eines solchen Videos kaum anders als auf die Knie zu fallen und dem Herrgott für die geistigen Gaben zu danken, die man von ihm erhalten hat. Denn die gezeigten Szenen sind der Beweis dafür, dass es einen deutlich schlimmer hätte treffen können.

Ein typisches Szenario: Sagen wir, auf der Linksabbiegerspur einer mehrspurigen Straße beginnen sich die Fahrzeuge zu stauen, vielleicht weil die Ampelschaltung nicht besonders linksabbiegerfreundlich ist. Irgendwann wird einer der Fahrer aus der Schlange herausziehen, ohne sich dabei umzuschauen, und zwar mit der Idee, die Kolonne auf einer anderen Spur (die dafür nicht vorgesehen ist) zu überholen. Das Ergebnis ist vorprogrammiert, nämlich entweder eine glatte Kollision mit einem zweiten Wagen oder zumindest eine wesentliche Beeinträchtigung des fließenden Verkehrs. Diesen Leuten kommt naturgemäß nicht in den Sinn, dass es auch noch Geradeausfahrer gibt.

Ein derartiges Fahrverhalten lässt sich recht gut mit drei Begriffen zusammenfassen:

  • Selbstsüchtig: Der Fahrer möchte um jeden Preis ein paar Sekunden eher an seinen Zielort gelangen.
  • Rücksichtslos: Dem Fahrer ist es egal, dass er dabei andere Verkehrsteilnehmer behindert.
  • Dumm: Angesichts der Verkehrslage sollte eigentlich klar sein, dass er sein Ziel nicht erreichen wird, sondern dass am Ende beide Parteien darunter leiden.

Die meisten dieser Videoclips stammen aus den USA und scheinen die diversen Vorurteile zu bestätigen, die unsereiner über das Land bzw. die Menschen hat. (In einem der Clips hat ein Mann einen anderen als “Democrat” bezeichnet, vermutlich weil er das für eine Beleidigung hielt.) Letztendlich glaube ich aber, dass die amerikanische Dominanz durch generelle YouTube-Länderstatistiken erklärt werden kann und dass man solche Autofahrer in so ziemlich jedem Land der Welt auftreiben könnte, wenn man nur richtig sucht.

In manchen der Videos ist es üblich, dass der “Cammer” (Bezeichnung für den Fahrer des Wagens mit der Dashcam) die Episode aus seiner eigenen Sicht schildert. Und ganz ehrlich, in einem beträchtlichen Teil der Fälle steht die “unschuldige” Partei ebenfalls nicht in einem besonders guten Licht da. Sinngemäß klingt das etwa so: “War mit 45 Sachen in einer Tempo-30-Zone unterwegs, als mich ein SUV abgedrängt hat. Habe mein Sandwich fallen lassen und musste SMS unterbrechen. Verdammte Fahrer aus <hier beliebigen US-Bundesstaat einsetzen>! Glücklicherweise kein Zusammenstoß, da ich so ein großartiger Fahrer bin. Werde Anzeige erstatten, sobald ich Sandwich im Fußraum wiedergefunden habe.” Nur Bekloppte!

Denn Autofahrer sind - wie die meisten Personengruppen - gern im Recht, und das SRD-Syndrom befällt in der Regel beide Seiten. Man kann sich nur darüber wundern, wie diese Menschen jemals einen Führerschein erworben haben. Verkehrssicherheit ist für sie überhaupt kein Thema; zumindest der gezeigte Fahrertyp scheint es gern hinzunehmen, wenn sein Wagen zu Schrott gefahren wird, solange er nur weiß, wem er dafür die Schuld geben kann. Er würde lieber seine Mutter verkaufen als einem anderen Fahrer die Spur zu überlassen. Road Rage ist der neue Volkssport.

Wenn man schlicht gestrickt ist, könnte man meinen, Bremse und Warnblinkanlage seien (zwecks Unfallvermeidung) die wichtigsten Werkzeuge eines Autofahrers. Mittlerweile kann man davon ausgehen, dass es der Mittelfinger und die Hupe sind. Nach einem Zusammenstoß stellen sich tendenziell beide Parteien zuerst die Frage, wem man die Schuld geben kann, bzw. - falls die Schuldfrage wirklich eindeutig zu den eigenen Ungunsten ausfällt - wie man aus der Sache herauskommt. Das bekannteste Fahrmanöver lautet nicht mehr Rückwärts einparken, sondern Fahrerflucht.

Stellt euch zur weiteren Veranschaulichung bitte vor, ihr seid auf der Autobahn unterwegs, und vor euch fährt ein Wagen mit Anhänger, der allmählich ins Schlingern kommt. Laut den Gesetzen der Physik - die auf menschliche Dummheit keine Rücksicht nehmen - wird das Schlingern zunehmen, wenn der Fahrer nicht angemessen reagiert, und irgendwann dazu führen, dass der Anhänger entweder umkippt oder den Wagen von der Straße reißt.

In der beschriebenen Situation wäre es sicher eine gute Idee, die eigene Geschwindigkeit zu verringern und den Sicherheitsabstand zu erhöhen. Der Protagonist der erwähnten Videoclips wird stattdessen versuchen, die Gefahrenquelle sicherheitshalber zu überholen (Betonung auf “sicherheitshalber”). Denn das Risiko eines Unfalls wird dabei als gering abgetan; hingegen bedenke man die Gefahr, wenn das vordere Fahrzeug sich querstellt - man könnte ja ein paar Minuten später zu Hause vor dem Fernseher ankommen! Vor diesem Hintergrund treffen manche Autofahrer ihre Entscheidungen, und wie zuvor ist das Ergebnis absehbar.

Wahrscheinlich könnte man zum SRD-Prinzip allein schon eine sehr erfolgreiche Webseite betreiben; Stoff ist jedenfalls genug vorhanden. Die Seite srd.com scheint aktuell frei zu sein und würde (”Selfish, Reckless, Dumb”) auch von englischsprachigen Besuchern problemlos verstanden werden. Was mich wirklich deprimiert, ist der Umstand, dass ich auf SRD-Infizierte inzwischen in jeder Lebenslage stoße, nicht nur im Straßenverkehr.

Kurz gesagt, das SRD-Prinzip lässt sich auf nahezu jeden Bereich des öffentlichen Lebens anwenden. Denken wir nur mal an den Beginn der Corona-Zeit: Maskenverweigerer und sonstige Gegner von medizinischen Schutzmaßnahmen handelten hauptsächlich aus Egoismus; es war ihnen egal, ob sie damit ihre Mitmeschen gefährdet haben; am Ende sind sowohl unter ihnen als auch dem Rest der Bevölkerung die Infektionszahlen gestiegen.

Eigentlich kann man mit den drei obigen Begriffen so ziemlich alles zusammenfassen, was mit den Menschen heutzutage falsch läuft. Zumindest bei Autofahrern drängt sich der Gedanke auf, dass sich das Problem von allein löst (Stichwort: Darwin Award). Leider ist Evolution ein unheimlich langsamer Prozess; wir können also nicht darauf hoffen, dass sich dieser Menschenschlag noch zu unseren Lebzeiten selbst “aus dem Verkehr zieht”.