Sunday, January 22, 2023
Zu Ihren Diensten!
Die folgende Episode hat sich vor ein paar Jahren zugetragen. Ich war im Kaufhaus und wollte einen Artikel kaufen, der in einer Sicherheitsbox verpackt war (von der Sorte, die man vor Verlassen des Geschäftes aufschließen lassen muss, weil sonst der Scanner am Ausgang Alarm schlägt). Beim Bezahlen schaut mich die Verkäuferin unglücklich an und sagt “Damit müssen Sie zur Kasse gehen”. Ich blicke nach oben, wo ein leuchtendes Schild “KASSE” hängt. Vermutlich habe ich infolge meiner Verwirrung ebenfalls kein besonders schlaues Gesicht gemacht, jedenfalls fügt sie “zu einer anderen Kasse” erklärend hinzu.
Nun war es in jenem Moment so, dass sich genau eine weitere (geöffnete) Kasse in Sichtweite befand, und zwar mit einer nicht gerade kurzen Schlange. Das Equipment, um die Sicherheitsverpackung zu neutralisieren, gab es in der Filiale wohl nur einmal, allerdings ohne irgendeinen sichtbaren Hinweis für die Kundschaft. Das bedeutet im Klartext, wenn man einen entsprechenden Artikel erwerben möchte, hat man lediglich eine fünfzigprozentige Erfolgschance. Nur Bekloppte!
Heute soll es um Dienstleistungen und deren Qualität gehen. Als ich jung war, habe ich gelernt, es gibt drei Wirtschaftssektoren (nämlich, grob gesagt, den Produktionssektor, die verarbeitende Industrie und den Dienstleistungssektor). In Deutschland ist der tertiäre Sektor klar vorherrschend. Mir kam dieses Modell damals unheimlich modern und fortschrittlich vor. Das tut es im Prinzip immer noch, nur nicht mehr im positiven Sinne. Ernüchtert hat mich die Wahrnehmung, dass so viele tagtägliche Dienstleistungen eine miserable Qualität haben.
Auf Selbstständige und Kleinunternehmen trifft das möglicherweise nicht zu, denn diese müssen eine ordentliche Qualität liefern, um überhaupt überleben zu können. Also schließt beim Weiterlesen bitte den Friseur an der Ecke und dergleichen gedanklich aus. Aber auf große Institutionen wie die Deutsche Bahn, die Post (und andere Paketdienste) oder die Telekom trifft das folgende mehrheitlich sicher zu. Beispielsweise könnte so ziemlich jeder in meinem Bekanntenkreis Geschichten über Paketzustellversuche erzählen, bei denen der Zustelldienst nicht besonders gut aussieht, und ich kenne kaum jemanden, der von den Versandunternehmen eine wirklich gute Meinung hat.
Mein persönlicher Favorit in dem Kontext sind übrigens Mobilfunkunternehmen. Ich habe über die Jahre hinweg mehrere ausprobiert, und sie waren alle katastrophal. Im Grunde genommen kann man die Bemühung, einen zufriedenstellenden Mobilfunkanbieter zu finden, nur noch als die Suche nach dem kleinsten Übel umschreiben. Dieser Tage wechsle ich meinen Anbieter nicht mehr, aber wohlgemerkt nicht weil ich den Richtigen gefunden zu haben glaube, sondern weil auch der jeweilige Wechselservice ein Alptraum ist.
Vor ein paar Monaten gab es bei uns eine Havarie, nachdem Bauarbeiter auf dem Fußweg eine Leitung beschädigt hatten (im Rahmen eines völlig anderen Auftrages). Über Vodafone, meinen jetzigen Provider, werden auch Festnetztelefon und Internet vermittelt, und beides war von einer Minute auf die andere nicht mehr verfügbar. Ich kann euch gar nicht erzählen, wie viele nutzlose Anrufe ich in der folgenden Woche getätigt und wie viele Stunden ich in Warteschleifen gehangen habe. Jeder Kontakt mit einem Vodafone-Mitarbeiter, den ich in dem besagten Zeitraum hatte, war ein weiterer Alptraum.
Unwillkürlich habe ich mich gefragt, wie diese Zeitgenossen ihren eigenen Service wahrnehmen. Denken sie wirklich, sie würden gute Arbeit leisten? Oder ist es ihnen egal? Möglicherweise erfahren sie ihrerseits in jeder Lebenslage gleichfalls einen schlechten Service und glauben daher, dass man Kunden wie Dreck behandeln kann, weil es alle anderen ja ebenfalls tun. Vielleicht sind sie zufrieden mit ihrer Servicequalität, weil sie auch nicht schlechter als das allgemeine Durchschnittsniveau ist.
Zur Unterhaltung spiele ich im Geiste Szenarien durch, wie so ein Dödel von der Vodafone-Hotline ein medizinisches Problem hat und den Notruf wählt. Nach zehn Minuten nerviger Musik in einer Endlosschleife hört er zuerst eine Banddurchsage: “Haben Sie einen Herzstillstand erlitten? Dann drücken Sie bitte die Eins. Leiden Sie unter Atemnot? Dann drücken Sie bitte die Zwei” und so weiter. Und wenn er endlich eine echte Person in der Leitung hat, muss er sich anhören, dass die Sanitäter gerade ausgelastet sind: “Wir können Ihnen einen Termin übernächste Woche Montag anbieten. Wie passt es Ihnen zwischen 9 und 12 Uhr?”
Nun, das obige wird sicher nicht passieren, weil die medizinischen Notdienste meines Wissens immer noch sehr gute Arbeit leisten. (Inzwischen ist es so, dass das gesamte Gesundheitswesen in der Wirtschaftsklassifikation einem eigenen Sektor zugeordnet wird.) Aber davon abgesehen frage ich mich: Wie kommt es, dass in einer Gesellschaft, die so stark auf Dienstleistungen aufbaut, deren Qualität generell so unterirdisch ist? Wie kann es sein, dass sich Unternehmen, die ihren Kunden gegenüber ein so erbärmliches Verhalten an den Tag legen, auf dem Markt behaupten und vermutlich sogar florieren?
Die Frage nach Ursache und Wirkung scheint ins Leere zu laufen: Wir akzeptieren, dass wir von den Unternehmen schlechte Services erfahren, weil es mittlerweile fast überall so ist. Und umgekehrt müssen die Unternehmen keine Qualität mehr bieten, weil im Großen und Ganzen keine Nachfrage mehr besteht. Das ganze System hat sich heruntergezogen, und wir haben uns gesamtheitlich damit abgefunden.
Und trotzdem empfinde ich das alles jedesmal aufs Neue als erschreckend, wann immer ich darüber nachdenke. Produktion und Industrie nehmen bei uns generell schon eine geringe Rolle ein; die Dienstleistungen dominieren die Wirtschaft, sind aber regelmäßig von erschreckender Qualität. (Und man sollte sich vor Augen führen, dass es sich dabei nur um formale Leistungen handelt, die unsere Gesellschaft nicht wirklich reicher machen.) Mir kommt es so vor, als würde die gesammelte Wirtschaftsleistung dieses Landes eigentlich nur aus einem kollektiven Nichtstun bestehen.
Inzwischen gibt es Services, die nur noch darin zu bestehen scheinen, andere Services zu vermitteln. (Wo kann man ein Produkt am billigsten kaufen, wo kann man Hotels am günstigsten buchen, usw.) Und am Ende kriegen sie nicht mal das hin! Das heißt doch, es gibt Leute, die verdienen ihr Geld nicht einmal mehr mit Nichtstun, sondern damit, dass sie sogar an der Vermittlung des günstigsten Nichtstuns scheitern. Ich wiederhole: Nur Bekloppte!