Saturday, May 20, 2023

Evolution in Aktion

Vor ein paar Tagen stand ich an einer roten Fußgängerampel und wartete geduldig auf die nächste Grünphase, als mir ein Zeitgenosse demonstrierte, dass es auch anders geht. Es handelte sich um einen Fahrradfahrer, der die Straße in der gleichen Richtung wie ich zu überqueren gedachte. Er war männlich, um die 20 Jahre alt, und hat nach meiner Einschätzung schlechte Aussichten, es bis 30 zu schaffen.

Die Geschichte ist nicht besonders kreativ, deswegen erzähle ich sie schnell. Anstatt neben mir zu verharren, radelte er einfach los und schien dabei den Bus nicht zu bemerken, der sich in einer für Straßenfahrzeuge typischen Geschwindigkeit fortbewegte. Man sollte meinen, dass ein Bus - fast zwanzig Meter lang, ebenso viele Tonnen schwer, und im Übrigen auch recht laut - doch ein auffälliger Verkehrsteilnehmer sei. Allerdings trug der junge Mann Kopfhörer, die ihm anscheinend das Bewusstsein für seine Umgebung raubten. Rückblickend muss ich immer wieder an eine Szene aus dem Film Johnny English 3 denken, in welcher der Titelcharakter zahlreiche Leute in seinem Umfeld außer Gefecht setzt, ohne es zu merken.

Der Busfahrer war außerordentlich umsichtig und schaffte es, durch Bremsen und Hupen eine Kollision zu vermeiden. (Das finde ich insofern bemerkenswert, als die meisten Personen im Straßenverkehr nicht beides gleichzeitig schaffen und sich beim Eintreten einer Gefahrensituation daher instinktiv für letzteres entscheiden.) Leider entging uns Umstehenden dadurch eine perfekte Lehrstunde in Sachen Evolution. In freier Wildbahn hätte niemand gebremst, der Radfahrer wäre draufgegangen, und die Erde hätte sich weiter gedreht.

Wie kann man nur so sorglos sein? Ich bin an einem Punkt in meinem Leben angelangt, an dem ich für diese Menschen nicht nur kein Verständnis, sondern mittlerweile auch kein Mitgefühl mehr aufbringen kann. Am ehesten hätten mir der Busfahrer und seine Passagiere leid getan, die zweifellos einen Schock erlitten hätten. Außerdem hätte ich wahrscheinlich einen Umweg gehen müssen, aber das wäre auch schon alles gewesen.

Es gibt Leute, die tun für einen Adrenalinrausch eine Menge verrückter Dinge, aber doch üblicherweise nicht im Alltag. Sie springen mit minimaler Ausrüstung aus großen Höhen oder lassen sich umgekehrt in die Luft schießen - natürlich immer in der Hoffnung, am Ende wieder heil auf dem Boden anzukommen. Ich gehöre nicht zu dieser Gattung, allerdings gelingt es mir zumindest teilweise, mich in solche Menschen hineinzuversetzen.

Die Betonung liegt hierbei auf “teilweise”. Zum Glück habe ich eine mathematische Ausbildung genossen und weiß daher, dass eine Erfolgsquote von, sagen wir, 999 aus 1000 doch plötzlich zu gering sein kann, wenn man dergleichen regelmäßig tut. Einmal habe ich von einem 20-jährigen Schachgroßmeister gehört, der neben seinen “akademischen” Interessen auch hobbymäßig Parkoursport betrieb. Unter anderem hatte er eine Neigung, in hohen Gebäuden von einem Balkon zum anderen zu springen. Er tat dies wohl in den meisten Fällen sehr souverän, nur eben einmal nicht, und jetzt sind sämtliche Aspekte seiner weiteren Lebensplanung ebenfalls rein akademisch.

Die besonders Wagemutigen tauchen mit Haien, treten mit Raubkatzen auf Bühnen auf oder halten ihre Extremitäten giftigen Schlangen hin. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich die meisten von ihnen der Gefahren solcher Unterfangen grundsätzlich bewusst sind. Jährlich steigen Millionen von Menschen auf einen hohen Berg, und zwar aus den unterschiedlichsten Motivationen heraus: weil sie diesen Teil der Welt noch nicht zuvor betreten haben, weil sie die Aussicht genießen wollen oder um sich fit zu halten - ganz zu schweigen vom wichtigsten aller Gründe (”weil er da ist”).

Und trotzdem betone ich nochmal: Dieser Menschenschlag riskiert sein Leben in der Regel nicht im Alltag. Manchmal wünsche ich mir wirklich, dass diejenigen unter uns, welche beim Überqueren von Straßen grundsätzlich eine lebensmüde Einstellung an den Tag legen, öfter Erfolg haben. Oder es müsste irgendeine andere Handhabe geben, um solche Leute aus dem Verkehr zu ziehen. In einem Buch über kuriose Gesetze habe ich gelesen, in den USA sei es unter Todesstrafe verboten, vom Empire State Building zu springen. Wenn das stimmen sollte, wäre es ein Schritt in die richtige Richtung.