Saturday, June 17, 2023

Wait for it

Beim Stöbern auf YouTube stoße ich in letzter Zeit vermehrt auf Videos, die eigentlich nichts Interessantes zu bieten haben, aber trotzdem so tun, als ob das der Fall wäre. Oft hat der Ersteller einen geistlosen, aber Spannung heischenden Titel gewählt (”Look what this man did!!!”) und dann ins Video die Worte “Wait for it” hineingeschnitten. Auf diese Weise möchte er wohl suggerieren, dass sein Werk einen Höhepunkt oder zumindest irgendeine Art von Pointe hat, was natürlich nicht der Fall ist. Im Gegenteil, ich habe schon regelmäßig erlebt, dass nicht einmal das Vorschaubild im Video vorkommt.

Die Leute wollen damit wohl erreichen, dass man ihre Videos zu Ende schaut, selbst wenn sich das nicht im Geringsten lohnt. Ich halte das für ein abstoßendes Verhalten und empfehle, um derartige Beiträge prinzipiell einen großen Bogen zu machen, die Videos ggf. zeitig abzubrechen und - wenn es die entsprechende Plattform erlaubt - den Erstellern eine schlechte Bewertung zu geben.

Nun muss meine Meinung zu dem Thema nicht maßgeblich sein (Tausende und Abertausende YouTuber und TikToker scheinen es jedenfalls anders zu sehen). Im Übrigen wird eine solche Reaktion nix bringen, denn es ist diesem Menschenschlag üblicherweise egal, ob sie sich an klassische Gepflogenheiten halten. In der Hinsicht sind sie stark mit Autofahrern verwandt, über die ich mich ja auch schon bei der einen oder anderen Gelegenheit ausgelassen habe - nur mit dem Unterschied, dass man die Person am Steuer noch nicht einmal downvoten kann.

Der Versuch, Inhaltsleere zu verschleiern und künstlich Spannung vorzutäuschen, wo überhaupt keine ist, ist natürlich nicht auf die moderne Landschaft sozialer Medien beschränkt. Im Fernsehen gehen mir regelmäßig die gleichen Gedanken durch den Kopf, z.B. wenn ich eine Quizshow einschalte. Normalerweise sollte eine ganz schlichte Ratesendung, von der es ja heutzutage Hunderte Variationen gibt, ungefähr aus den folgenden Elementen bestehen:

  • einer kurzen Einleitung des Moderators;
  • einem Kandidaten-Auswahlverfahren;
  • einer schnellen Vorstellung des Kandidaten, der sich gegen seine Konkurrenz durchgesetzt hat;
  • einer Reihe von Quizfragen und Antworten;
  • etwas Smalltalk über die Lebensverhältnisse des Kandidaten;
  • den unvermeidlichen Werbepausen;
  • zum Ende der Sendezeit einer kurzen Verabschiedung des Kandidaten oder - falls dessen Teilnahme noch nicht abgeschlossen ist - einer Ankündigung, dass es beim nächsten Mal an dieser Stelle weitergeht.

Soweit mein Wunschdenken. Leider kann selbst ein talentierter Entertainer vom Format Günther Jauch daraus nicht endlos viel Spannung generieren, erst recht nicht ein Pappenheimer aus der Kategorie Elton, dem man die Show stattdessen anvertraut hat. Deswegen sieht die typische Realität etwa wie folgt aus (sucht euch gern die Schnarchnase eurer Wahl aus und spielt die Szene im Geist mit mir durch).

Angenommen, dem Kandidaten - sagen wir, einem würdevollen emeritierten Physikprofessor - ist die Frage “Wer hatte vor Angela Merkel den CDU-Parteivorsitz inne?” gestellt worden, und die vier vorgegebenen Antwortmöglichkeiten lauten:
(A) Helmut Kohl
(B) Annegret Kramp-Karrenbauer
(C) Wolfgang Schäuble
(D) Markus Söder
Der Kandidat hat laut gedacht und sich schließlich für (C) entschieden, was - soviel sei vorweggenommen - die richtige Antwort ist. Was passiert jetzt?

Der Moderator liest nochmal die Frage und alle Antwortmöglichkeiten vor. Er tut das sehr langsam und gedehnt, weil er nach Zeit und nicht nach Leistung bezahlt wird. Die Kamera zeigt inzwischen das Publikum, von dem erwartet wird, dass es gespannt wie ein Flitzebogen dasitzt. In Wirklichkeit ist das nur teilweise der Fall, doch sobald ein Kind in der ersten Reihe anfängt, gelangweilt in seiner Nase zu bohren, schaltet die Regie zurück zum Moderator. Bevor es weitergehen kann, werden schnell ein paar Takte laute, dramatische Musik gespielt. Der Kandidat hat bereits vor 30 Sekunden seine endgültige Antwort gegeben und wird allmählich ungeduldig.

Der Moderator schließt Antwort (D) aus und erklärt lang und breit, warum die Antwort Blödsinn ist, in unserem Fall weil Söder in der CSU ist (und auch immer war). Der Kandidat hat das in 5 Sekunden abgehakt, aber der Moderator braucht dafür gefühlt eine Minute. Als er schließlich einen Moment innehält, um Luft zu holen, kommt die Musik zurück. Sie wirkt noch etwas lauter und dramatischer als zuvor.

Der Moderator schließt Antwort (B) aus und erklärt in stockenden Sätzen, dass AKK nach Merkel und nicht davor CDU-Vorsitzende war. Er legt dabei eine so übertriebene Betonung auf das Wort “danach” an den Tag, dass man Angst hat, seine Gesichtsmuskeln könnten bei der Aktion verkrampfen. Dass er dabei keinen kontinuierlichen Redefluss zustande kriegt, liegt schlicht und einfach daran, dass er es selbst nicht wusste (bzw. nicht sicher war) und die entsprechenden Informationsfetzen von der Regie ins Ohr diktiert bekommt.

An der Stelle wird beschlossen, dass die Kamera erneut über das Publikum schwenken soll. (Ich frage mich, ob es angesichts des trägen Ablaufs wirklich einmal vorkommt, dass jemand demonstrativ abwinkt und nach draußen geht. Vermutlich nicht, aber es wäre zweifellos eine schöne Erfahrung.) Im schlimmsten Fall folgt jetzt Werbung - oft verbunden mit einer thematisch passenden, aber um ein Vielfaches sinnfreieren Frage, z.B. “Wer war vor Angela Merkel Bundeskanzler?” mit den Antwortoptionen Gerhard Schröder und Guido Westerwelle, um die Zuschauer in den Telefon-Endlosschleifen abzuzocken.

Im günstigsten Fall macht der Moderator nur etwas, was er irrtümlich für einen Scherz hält, und kommt dann endlich zur Sache (seit der Antwort des Kandidaten sind inzwischen mehrere Minuten vergangen). Die Art und Weise, die er dabei wählt, hat unverändert Brechmittel-Charakter: “Was ist jetzt richtig? A oder C? A oder C? A oder C? Und die richtige Antwort lautet: …”, und dieser letzte Moment wird auch nochmal intensiv gestreckt, bevor er sich das hohe C rausquält. Das alles stellt eine besondere Herausforderung für die Mitarbeiter der Tontechnik dar, die zweifellos ebenfalls schon gähnen, aber punktgenau mit der Auflösung einen entsprechend feierlichen oder enttäuschenden Tusch einspielen müssen.

Das Ganze wiederholt sich mehrfach, so dass mit einem Dutzend Fragen ein Sendeplatz von einer Stunde Länge gefüllt werden kann. Im Grunde hätte man das alles in 30 Sekunden abhandeln können. Allerdings sind TV-Produzenten quotengeil, und man erzielt heutzutage bedauerlicherweise keine Quoten mehr dadurch, dass man einfach sagt, was man zu sagen hat.

Die Alternativen im Fernsehen sind übrigens auch bloß nicht besser. Kürzlich wollte ich mir mal “Monk” anschauen (ich mag kurzweilige Krimiserien, und die Serie lief auf Super-RTL gerade von vorn an). Leider hatte der Programmplaner nicht mitbekommen, dass die vorgesehene Folge 2 (ab 22 Uhr) mit der zweiten Hälfte der Pilotepisode unmittelbar davor übereinstimmte, so dass ca. 45 Minuten doppelt gezeigt wurden. Kurz gesagt, der Sender hat es geschafft, inklusive Werbung eine komplette Stunde zu überbrücken und musste dafür nicht einmal eine Moderations-Attrappe beschäftigen. Nur Idioten!

Leider bringt es wie gesagt nix, wenn sich ein Einzelner darüber auslässt. Wenn Millionen Fernsehzuschauer plötzlich anfangen würden, Millionen Briefe an TV-Redaktionen zu schicken, in denen sie Inhalte einfordern, müssten die Produzenten ins Grübeln kommen. Aber das passiert nicht. Solange in einem System von Angebot und Nachfrage die Nachfragenden nicht wissen, wie man “Niveau” schreibt, müssen die Anbieter es auch nicht wissen.