Saturday, December 2, 2023

Es domt

In meiner Wahlheimat Hamburg gibt es regelmäßig ein großes Spektakel, welches Tausende (laut Wikipedia sogar Millionen) von Besuchern anlockt. Offiziell handelt es sich um ein Volksfest; in der Praxis ist es vielmehr ein organisierter, systematischer Angriff auf die Sinne. Die Sache heißt “Hamburger Dom” und findet dreimal jährlich für jeweils ungefähr vier Wochen statt. Ort des Geschehens ist das Heiligengeistfeld, direkt neben dem Millerntor-Stadion.

Früher habe ich Volksfeste halbwegs gern besucht, denn das war in der Regel eine angenehme, kurzweilige Erfahrung. Doch wie bei den meisten Dingen beschreibt es auch hier der Satz “die Zeiten ändern sich” am besten. Inzwischen fällt es mir zunehmend schwer, mich durch das gewaltige Gedränge von Menschen zu kämpfen, die eine Kirmes nun mal mit sich bringt, nur um dann festzustellen, dass mich die meisten der lieblos hingeknallten Stände ohnehin überhaupt nicht reizen.

Beginnen wir mal mit den Geschicklichkeitsspielen. Als ich aufgewachsen bin, gab es da hauptsächlich zwei Formate, nämlich Ringewerfen und Dosenwerfen. Letzteres gibt es immer noch, allerdings finde ich den Preis (4 Euro für 3 Bälle) etwas unseriös. Das andere habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Stattdessen wird so ziemlich jede neue Variante der Hand-Auge-Koordination vermarktet, von Entenangeln und Froschklopfen (Bitte was?!) bis hin zu einer Herausforderung, bei der man Bälle durch sich öffnende Klobrillen befördern muss.

Es sind nicht nur die Spiele selbst, die mich abschrecken, sondern auch die Preise. Sehr beliebt sind dieser Tage Plüschbären, die ihre grell-blauen Augen anderen Figuren gemopst haben und jetzt wie eine Mischung aus zoologischen Kuriositäten und Teletubbies aussehen. An solchen Buden werde ich grundsätzlich nicht aktiv, und zwar schon aus Angst, ich könne etwas gewinnen. Denn in dem Fall müsste ich meiner Bekanntschaft wochenlang meine geschmackliche Verirrung erklären, also lasse ich es lieber von vornherein bleiben.

Noch schlimmer sind die reinen Losbuden. Nun ist zwar bekannt, dass man bei Glücksspielen durchaus Pech haben kann, trotzdem widert mich die Art und Weise, in der die Kundschaft mit einer “Jedes Los gewinnt!”-Mentalität über den Tisch gezogen wird, mittlerweile nur noch an. Nehmen wir mal an, auf den Losen sind Spielkarten abgebildet (sagen wir, nur Asse, der Einfachheit halber), und man muss schlicht vier Asse in den vier verschiedenen Spielkartenfarben sammeln, um den Hauptgewinn einzuheimsen. Das klingt soweit vielversprechend. Wenn man dann allerdings irgendwann 27 Karo-Asse auf der Hand hat (und kein einziges anderes), stellt sich langsam die Erkenntnis ein, dass sich der Traum vom großen Preis nicht erfüllen wird.

Um nicht gänzlich dumm dazustehen, investiert man also nochmal etwa den gleichen Geldbetrag, weil man irgendwo auf einer Tafel liest, dass man für 50 Lose mit beliebigem Inhalt wenigstens einen Trostpreis ergattert. Leider bekommt man von dem stark alkoholisierten Budenbetreiber am Ende aufgezeigt, dass man im Wesentlichen die Wahl zwischen einem 3 cm großen Plastik-Spielzeugauto und einem St.-Pauli-Schlüsselanhänger hat. Wirklich toll, oder? Ich habe dergleichen jetzt schon mehrfach erlebt und noch nie an einem solchen Stand auch nur ein einziges glückliches Gesicht gesehen.

Besondere Erwähnung verdienen die Fahrgeschäfte aller Art. Der Fairness halber muss ich hier gestehen, dass selbige wirklich aufregend aussehen. Doch da ich keine Karriere als Astronaut anstrebe, habe ich keine Lust, mich von einem überdimensionalen Pendel durch die Gegend schwingen zu lassen. In den Nachrichten liest man ein- bis zweimal im Jahr, dass sich irgendwo in der Welt bei einer vergleichbaren Attraktion eine Gondel gelöst und in den Nachthimmel verabschiedet hat, um dann ein paar Sekunden später in einer Hotellobby am anderen Ende des Stadtteils aufzuschlagen. Insofern ist dieser Nervenkitzel nicht so mein Ding.

Als ich von einem “Angriff auf die Sinne” sprach, meinte ich damit nicht nur das Sehen und Hören (wenngleich die blinkenden Lichter und die schrillen Lautsprechergeräusche natürlich ihren Teil beitragen). Nein, auch der Geruchssinn wird auf dem Dom arg in Mitleidenschaft gezogen, und zwar überall dort, wo Fressalien angeboten werden. Laut offizieller Statistik ist das zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Stände, gefühlt noch ein Stück mehr.

Gerade auf dem Winterdom scheinen die Organisatoren der Meinung zu sein, um der Weihnachtsstimmung gerecht zu werden, müsse ein übermäßiges Lebkuchenaroma allgegenwärtig sein. Jedes erhältliche Nahrungsmittel - egal ob es sich um ein lauwarmes Stück Pizza, einen Bratapfel oder ein klassisches Fischbrötchen handelt - sieht aus und riecht, als wäre es nicht nur kurz in eine hochprozentige Zuckerlösung getunkt, sondern vielmehr den größten Teils seines traurigen Daseins regelrecht darin gebadet worden.

Das größte Problem sind, wie so oft, die Menschen. Insgeheim habe ich seit langem den Verdacht, der Dom wäre in Wirklichkeit eine geschlossene Gesellschaft, und zwar für Personen, die beim Gehen nach links/rechts/oben/unten/hinten schauen, nur grundsätzlich nicht nach vorn. Sie treten gern in Gruppen auf und bilden Ketten, um den Strom der Dombesucher maximal aufzuhalten und dabei mit möglichst vielen Gleichgesinnten zu kollidieren. Wenn sich darunter zu allem Unglück auch noch Raucher befinden, die ihre atmosphärischen Gifte mit Vorliebe in den erstbesten Kinderwagen blasen, na dann gute Nacht.

Diese Leute haben den größten Teil des Jahres nur eine Möglichkeit, ihre Triebe auszuleben, nämlich indem sie sich, den Blick starr auf ihr Smartphone gerichtet, ziellos durch den öffentlichen Raum bewegen. Aber dreimal im Jahr kommen sie in Hamburg voll auf ihre Kosten. Gerade wenn sich das Jahr dem Ende zu neigt, verdoppelt sich ihr Glück, weil nach dem Dom der Weihnachtsmarkt auf sie wartet, wo sich alles nochmal wiederholt.

Ihr mögt (spätestens) jetzt einwerfen, dass ich alles immer nur negativ darstelle und meine Kritik in keinem Verhältnis zur Realität steht. Und doch habe ich das Gefühl, die Volksfeste machen die gleiche Entwicklung durch wie z.B. die heutigen Dienstleistungsanbieter oder das Fernsehprogramm: Die Qualität wird schlechter, aber wir akzeptieren es, weil wir süchtig nach einer ständigen Reizüberflutung sind und deswegen die Orte weiterhin gern aufsuchen, an denen es permanent klingelt und flimmert. Mit diesem Gedanken beende ich meine heutige Miesmacherei - ich muss Frösche klopfen gehen.