Sunday, March 19, 2023

Wann baute Noah seine Arche?

Ein kleines Rätsel: Zwei Fußgänger kommen einander auf einem Fußweg entgegen und drohen zusammenzustoßen. Die beiden kennen sich nicht, und keiner von ihnen hat irgendeine offizielle Funktion (Polizei oder ähnliches). Wer von beiden muss ausweichen? Tipp: Das Rätsel funktioniert auch mit Autofahrern.

Die Antwort lautet natürlich: Derjenige, der gerade keine SMS schreibt. Zwar gibt es dafür keine formale Regel, aber es entspricht zweifellos der gelebten Praxis. Ihr mögt jetzt einwenden, dass ich keine Handys erwähnt habe; andererseits ist es Normalität, dass Menschen im öffentlichen Raum an ihren Smartphones kleben, so dass man es nicht nochmal besonders hervorheben muss.

Ich habe oben geschrieben, dass für Autos dasselbe gilt, und leider meine ich das im Ernst. Der durchschnittliche Autofahrer empfindet es offenbar als unter seiner Würde, ausschließlich am Verkehrsgeschehen Anteil zu nehmen, und tut folglich noch dies oder jenes gleichzeitig. Und ich meine wohlgemerkt nicht einen harmlosen Wortwechsel mit dem Beifahrer, sondern Aktivitäten, welche normalerweise die komplette CPU eines Menschen in Anspruch nehmen.

In einem früheren Artikel hatte ich angedeutet, dass ich mir gern YouTube-Videos über bekloppte Verkehrsteilnehmer anschaue. Dabei bin ich inzwischen mehrfach auf die Phrase “Luckily I was not on the phone” gestoßen (”Zum Glück war ich gerade nicht am Telefon”). Das ist so haarsträubend, dass man es sich gar nicht ausdenken kann. Diese Menschen lassen es so klingen, als ob Aufmerksamkeit hinter dem Steuer optional wäre.

Es ist ein bedauerlicher, oftmals nicht angemessen gewürdigter Umstand, dass es fast immer unschuldige Parteien sind, welche hierfür den Preis zu zahlen haben. Ein Bekannter von mir machte den Fehler, mit dem Fahrrad auf der gleichen Landstraße wie ein handyverliebter Autofahrer unterwegs zu sein, und wird jetzt - mit den Worten des unvergesslichen Alan Rickman - für den Rest seines Lebens nicht mehr unter uns weilen.

Ein zentrales Element bei dieser Problematik ist die völlig falsche Selbsteinschätzung der Fahrer, die mehrheitlich glauben, sie könnten das Auto und ihr Handy erfolgreich parallel bedienen. Selbst wenn man einmal unterstellt, dass dies in 99% der Fälle zutrifft (eine Zahl, die ich in absurdem Ausmaß für zu hoch gegriffen halte), impliziert das dennoch Tausende vermeidbare Gefahrensituationen und potentielle Unfälle. Pro Tag.

Am frustrierendsten bei alldem finde ich, dass es anscheinend keine ernste Handhabe gegen handybenutzende Autofahrer gibt. Jeder einzelne von ihnen ist nicht einfach nur ein Unfallrisiko im hypothetischen Sinne, sondern statistisch gesehen auch ein bevorstehender, realer Unfall. Theoretisch müssten sie alle Fahrverbot bekommen; praktisch geschieht das nicht. Ein Handy beim Autofahren zu benutzen, ist anscheinend kein besonders schweres Delikt - bzw. erst dann, wenn man jemanden totgefahren hat.

In unserer Gesellschaft ist es so, dass Fehlverhalten erst dann geahndet wird, wenn jemand zu Schaden kommt. Darüber könnte ich mich stundenlang auslassen (und es würde nichts ändern). Aber selten hat das jemand so auf den Punkt gebracht wie Robert Redfords Charakter im Film “Spy Game” mit dem folgenden Zitat: “Wann baute Noah seine Arche? VOR der Sintflut.” Damit ist eigentlich alles gesagt.